Gestrandet auf seiner einsamen Insel, muss England im kommenden Juni mit ansehen, wie auf dem Kontinent die Euro 2008 ausgespielt wird. Alle großen Fußballnationen Europas sind dabei - nur das Mutterland des Fußballs nicht. Was ist da bloß schief gelaufen? Wir haben ein paar Gründe für die "dunkelste Stunde der englischen Fußballgeschichte" (The Sun) zusammengetragen.
1) Isolationismus
Wenn deutsche Kommentatoren über englische Misserfolge sprechen, dann wird stets von der Premier League als "angeblich bester Liga der Welt", oder gerne auch: "selbsternannter bester Liga der Welt" verwiesen - so, als sei das eine haltlose Behauptung, und als habe der Autor dieser Formulierung selbst schon immer gewusst, dass das gar nicht stimmt.
Dabei stimmt es. Man kann sich darüber streiten, ob die Primera División oder die Premier League in diesem oder jenem Aspekt besser ist. Fakt ist aber, dass die englische Liga zum besten zählt, was Europas Fußball zu bieten hat. Das liegt einerseits am Geld, das dort verdient wird, andererseits (und damit zusammenhängend) auch daran, dass englische Clubs konsequent Spieler und Trainer, ja sogar: Mogule aus aller Welt in die Liga lassen. So entsteht ein höheres Spielniveau, als es die englischen Teams etwa vor 15 Jahren hatten.
Dennoch - oder gerade deshalb - bestand die FA darauf, dass der Nationaltrainer, der Sven Göran Eriksson beerben würde, ein Brite sein müsse. So wurde mit Steve McClaren jemand verpflichtet, den kein Spitzenclub in England unter Vertrag genommen hätte. Während Meistertrainer wie Arsène Wenger ihre Talente aus aller Welt zusammenscouten, wollte England zurück zur splendid isolation und sich von kontinentalen Einflüssen fernhalten.
2) Steve McClarens Entscheidungen
Ein neuer Trainer kann nicht alles genauso machen, wie sein Vorgänger - auch, wenn er dessen Assistent war. Während sich aber im Fall der deutschen Elf herausstellte, dass Joachim Löw weit mehr als nur der Mann war, der für Jürgen Klinsmann die Hütchen aufstellte, wurde in England bald klar, dass Steve McClaren nicht ohne Grund so lange als zweiter Mann gearbeitet hatte.
Einer schönen Anekdote zufolge trat McClaren nach dem 1:1 von Manchester United im Champions League-Finale 1999 an seinen Cheftrainer Sir Alex Ferguson heran und fragte, ob sich die Reservisten auf die Verlängerung vorbereiten sollten. Fergie entgegnete: "Es wird keine Verlängerung geben!". Der große Schotte sollte Recht behalten, wie wir inzwischen wissen. Natürlich konnte Ferguson nicht vorhersehen, dass Ole Gunnar Solskjaer noch den Siegtreffer erzielen würde. Aber er hatte den richtigen Instinkt.
Dieser fehlte McClaren nicht nur damals in Barcelona, sondern auch immer wieder während seiner Zeit als Nationalcoach. Gleich zu Beginn seiner Amtszeit entschied er sich dafür, Davd Beckham nicht nur die Kapitänsbinde abzunehmen, sondern ihn gleich ganz aus dem Kader zu werfen. Beckham spielte eine gute Saison mit Real Madrid und wurde Spanischer Meister - McClaren holte ihn kleinlaut zurück. Im entscheidenden Spiel gegen Kroatien saß Beckham wieder eine Halbzeit über auf der Bank und kam erst beim Stand von 0:2 ins Spiel. Seine wunderbare Flanke auf Peter Crouch zum 2:2 zeigte, wie wertvoll Becks immer noch sein kann.
Als die englische Delegation das Qualifikationsspiel zwischen Israel und Russland im Mannschaftshotel in Watford ansah, ging McClaren auf die Toilette, als die Nachspielzeit anbrach. Er verpasste einen Pfostenschuss von Dmitri Sychev, der ihn den Job hätte kosten können, wäre er ins Tor gegangen, und den Siegtreffer Israels, der ihm eigentlich den Job hätte retten müssen.
Sein Job war aber so oder so verloren - doomed, wie der Brite gerne sagt. Lange Zeit hielt McClaren an seinem umstrittenen Keeper Paul Robinson fest, obwohl dieser sowohl im Nationalteam als auch bei Tottenham Hotspur regelmäßig patzte. Schließlich riss er vor dem letzten Qualifikationsspiel das Steuer herum und stellte urplötzlich Scott Carson von Aston Villa ins Tor. Dessen kapitaler Fehler leitete Englands historische Niederlage gegen Kroatien ein. Sicher wäre es vermessen, zu behaupten, Robbo hätte diese Fehler nicht gemacht. Aber in allen vorherigen englischen Heimspielen dieser Qualifikation hatte der Spurs-Keeper nicht ein einziges Gegentor kassiert.
3) Verletzungspech deluxe
Wayne Rooneys Füße, Michael Owens Oberschenkel, David Beckhams Knöchel, John Terrys und Rio Ferdinands Wehwehchen - zahlreiche Schlüsselspieler fehlten McClaren immer wieder durch Verletzungen. Gerade die Weltklasse eines Wayne Rooney, die sich etwa in seinem Tor in Moskau gegen Russland wieder offenbarte, hätte sicherlich den Unterschied in manchem Spiel machen können.
Und auch die Innenverteidigung hätte mit Terry und Ferdinand gegen Kroatien vielleicht nicht drei Gegentore kassiert. Aber Verletzungspech hatten andere Teams in dieser Qualifikation auch - nicht zuletzt Deutschland, das mit Michael Ballack, Torsten Frings und Bernd Schneider am Ende sogar auf fast sein gesamtes Prunkstück-Mittelfeld verzichten musste.
Die Erkenntnis bleibt, dass die Spielerdecke in England sehr dünn ist, und der Ersatz alles andere als adäquat ist - was man an Stürmern wie Darren Bent oder dem agilen, aber defensiv sehr anfälligen Micah Richards deutlich sehen kann.
4) Kroatien
Es gibt Mannschaften, die sich nicht mehr besonders angestrengt haben, nachdem die Qualifikation für die Endrunde unter Dach und Fach gebracht war. Deutschland spielte eine überragende Quali - nur, um dann unmittelbar nachdem sie sich als erstes Team für 2008 qualifiziert hatten, sang- und klanglos mit 0:3 gegen Tschechien unterzugehen. Rumänien verlor in Bulgarien und hätte den Niederlanden damit fast noch Schwierigkeiten gemacht - und das Oranje-Team selbst verlor blamablerweise in Weißrussland.
Aber eine Mannschaft wuchs über sich hinaus: Slaven Bilic hatte seine Kroaten hervorragend eingestellt. Gegen eine englische Mannschaft, der im ehemals furchteinflößenden Wembley-Stadion schon ein Unentschieden gereicht hätte, spielten die bereits qualifizierten Kroaten, als ginge es um den Einzug ins WM-Finale. Selbst, als der 2:0-Vorsprung egalisiert war, wollten sie den Sieg - und bekamen ihn durch Mladen Petrics tolles Tor.
Die Einstellung und die Spielweise der Kroaten war ein Musterbeispiel für Fairplay und den Spirit des beautiful game. Dass eine vermeintliche Tretermannschaft vom Balkan das dem Mutterland des Fußballs demonstrieren musste, war ein passender Schlussakkord der Ära Steve McClaren.
Wohl in kaum einem anderen Land wird die Auslosung der WM-Qualifikationsgruppen am Sonntag schon so eine große Rolle spielen wie in England. Reif für die Insel? Die Insel ist reif für grundlegende Veränderungen. Dann klappt's auch mit dem Fußball.